Bildungsschock: Vom Wiegen allein wird die Sau auch nicht fett

Bei den Zehnjährigen in der vierten Grundschulklasse liegen sämtliche Leistungen in der Bundesrepublik sehr wesentlich unter dem internationalen Durschnitt.“ Nein, diese Aussage findet sich nicht im Ergebnis der letzten Pisa-Studie oder des im Sommer 2022 veröffentlichten Bildungstrends des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), sondern war die bittere Zusammenfassung eines weltweiten Vergleichs naturwissenschaftlicher Schülerleistungen im Jahr 1974.

Was in den nunmehr fast 50 vergangenen Jahren folgte, war jedoch keine Ursachenforschung und einer damit einhergehenden Verbesserung der Bildung, sondern ein Herumstochern sowohl der Bildungsforschung als auch der Bildungspolitik im meist ideologisch rot eingefärbten Nebel. Statt den Schwerpunkt des Grundschulunterrichts auf den umfassenden Erwerb zivilisatorischer Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen zu legen, verzettelte man sich in einer nicht zu überblickenden Vielzahl von Modellversuchen und Sonderprogrammen, mit denen vornehmlich „Bildungsgerechtigkeit“ hergestellt werden sollte. Gleichzeitig machte die – letztlich steuergeldfinanzierte – empirische Bildungsforschung eine ungeahnte Karriere, ganz so, als ob die Sau allein vom Wiegen fett würde. Wissenschaftliche Studien und Erhebungen zum Leistungsstand von Schülern bzw. zum Leistungsvermögen unserer Schulen haben durchaus ihre Berechtigung – mit „gefühltem Wissen“ hat sich Deutschland jahrzehntelang nur selbst betrogen. Entscheidend sind aber die Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Wie wenig dies in nahezu allen Bundesländern geschehen ist, lässt sich schon daran ablesen, dass die Träger der roten Laterne in sämtlichen Bildungsstudien stets die bekannten Kandidaten Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen sind, während die Spitzenplätze von Bayern und Sachsen belegt werden. Dafür, dass man sich partout nicht an Letzteren orientieren will, gibt es keinerlei rationales Argument; wohl aber wird damit der einzige wirkliche Vorteil des bundesdeutschen Bildungsföderalismus, durch einen gesunden Wettbewerb die Bildungsqualität mehr und mehr zu erhöhen, ausgehöhlt.

Die Ergebnisse des jüngsten IQB-Ländervergleichs, nach 2011 und 2016 die dritte derartige Studie, belegen indes den Abwärtstrend und die immer geringeren Lernerfolge, sei es in Flensburg oder in Garmisch: Der Anteil derjeni­gen Viertklässler, die beim Lesen, Schreiben und Rechnen nicht die von der KMK gesetzten Regelstandards erreicht, hat weiter zugenommen. Während aber der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger dies deutlich als „Beleg für einen ungebremsten Bildungsabsturz“ bezeichnet, flüchtet sich die Politik in Ausreden und macht vor allem die Coronamaßnahmen bedingten Schulausfälle verantwortlich. Dass dies zu kurz gedacht ist, ist schon daraus ersichtlich, dass die Entwicklung kontinuierlich verläuft und die Ergebnisse der 2021-Studie keine Ausreißer sind.

Als weitere Erklärung für den Abwärtstrend dient der Politik zudem der hohe Migrantenanteil in der Schülerschaft. So nachvollziehbar diese These auf den ersten Blick erscheinen mag, so wenig wird sie dem tatsächlichen Ausmaß gerecht, denn es ist eine weitverbreitete Praxis, dass Schüler ohne ausreichende Deutschkenntnisse an Studien „wegen Krankheit“ erst gar nicht teilnehmen.

Bei all dem sind die Faktoren, die in ihrer Wirksamkeit das Lernen positiv beeinflussen, spätestens seit der sogenannten Hattie-Studie aus dem Jahr 2009 bekannt – nur widersprechen sie der Ideologie der meisten Bildungspolitiker. Deshalb dominiert das „selbstgesteuerte Lernen“ den didaktischen Diskurs, während direktive Lernformen verpönt werden. Deshalb dominiert die unbedingte Bildungsgerechtigkeit und nicht der Bildungsehrgeiz die Diskussion. Deshalb wird allenthalben von „Kompetenzen“ und nicht von Lehrplänen gesprochen. Deshalb werden der Leistungsgedanke und die Noten-Bewertung ins Reich der schwarzen Pädagogik gestellt, anstatt deren Eindeutigkeit und Vergleichbarkeit als Vorteil anzuerkennen. Deshalb wird Schule und Unterricht mehr und mehr vereinheitlicht, anstatt die Konsequenz daraus zu ziehen, dass es auch unter Schülern Praktiker und Theoretiker gibt. Deshalb werden aus Lehrerinnen und Lehrern letztlich austauschbare „Lernbegleiter“, die ihre Schüler nicht in Klassen, sondern in „Clustern“ unterstützen. Deshalb glaubt man, dass die Digitalisierung unserer Schulen die Wende bringen würde, anstatt insbesondere bei Grundschulkinder ein altersgerechtes Lernen mit viel Bewegung anzustreben, dass wiederum die Voraussetzung für ein sicheres Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen ist. 

Die Folgen all dieser Versäumnisse und ideologischer Scheren im Kopf spiegeln sich in der jüngsten IQB-Studie wider und es bleibt zu befürchten, dass man auch auf die Ergebnisse der kommenden Bildungsstudien „geschockt“ reagieren wird.

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